Verlag | Blaukreuz-Verlag |
Auflage | 2022 |
Seiten | 176 |
Format | 19 cm |
Gewicht | 296 g |
ISBN-10 | 3855805636 |
ISBN-13 | 9783855805631 |
Bestell-Nr | 85580563A |
«Der Junge sitzt auf den Steinen hinter dem Tor der zerfallenden Stadtmauer, schaut hinunter auf den Hafen, wo die Fährschiffe anlegen, erkennt hinter der Weite der mondschimmernden Wellen die Umrisse des Festlandes, diesen Küstenstreifen des anderen Kontinents, der den Jungen anzieht wie der Köder den Fisch, und er weiss: Dort will er hin.» Atmosphärisch dicht erzählt Ursula Meier-Nobs die Geschichte eines obdachlosen marokkanischen Jungen, der von der Ferne träumt und mithilfe einer ganz besonderen Katze - der eigentlichen Heldin dieser Novelle - schliesslich sein Glück findet. Der Fischmarkt am Hafen, der Feigenbaum im Garten, der Duft von Gewürzen auf dem Markt, das glitzernde Meer und ein magischer Dschinn, der im Hintergrund die Fäden zieht ... «Die marokkanische Katze» sprüht vor märchenhaftem orientalischem Flair. Die Autorin hat selbst mehrere Wochen in Marokko verbracht und liess sich von den Menschen und Tieren, denen sie dort begegnete, zu dieser Geschichte inspirieren .
Leseprobe:
Die Winde der beiden Meere brausen über die weissen, flachen Dächer des Kasbah-Hauses. Sie wühlen im Fell der schwarzen Katze, zerren an der aufgespannten Wäsche, dass die Zipfel der tanzenden Tücher lärmen wie Peitschengeknalle. Unsanft ernten sie aus dem rauschenden Blättergewirr des mächtigen Feigenbaumes die überreifen Früchte. Zerschmettert, das rötliche Innere blossgelegt, kleben sie auf dem Boden der sonnenwarmen Dachterrasse, heimgesucht von einem Heer kleiner, brauner Ameisen. Gegenüber, auf dem alten Sultanspalast, windet sich die rote Fahne mit dem grünen Stern hilfesuchend um sich selbst, winkt mit der einzigen noch losen Ecke verzweifelt in den strahlenden Nachmittag und weiss nicht, wie ihr geschieht. Die Katze steht ganz still, die rechte, leise zitternde Pfote leicht angehoben. Angespannt bis in die dünne Schwanzspitze sieht sie den Wagen über den unebenen Boden des staubigen Platzes holpern und in einem halben Bogen in der Gasse neben der alten Mauer verschwind en. Noch ist sie sich nicht sicher, noch mag sie es nicht glauben, obschon die Betriebsamkeit dieses Morgens sie hätte warnen sollen. Ihre nach vorn gerichteten Ohren zucken, erhoffen vertrauten Klang. Sie wartet, wartet bis sich die Kinder der Volksschule auf ihrem Heimweg lärmend durch das Tor der Medina drängen, wirft einen kurzen Blick zu den breitfedrig zwischen den Zinnen hockenden Tauben, springt gewandt über die steinerne Bank hi nab zum Altan. Der Napf steht noch da, halb gefüllt, sie beschnuppert die Brocken, aber hungrig ist sie nicht - noch nicht. Sie legt sich hin, vor die Gittertüre; dort wirft der Kaminhut um diese Zeit seinen Schatten, sie leckt ihre Pfote, fährt damit über den Kopf, die Ohren, streckt sich, wälzt sich kurz und kugelt sich zusammen. Eine kleine Weile beobachtet sie die über ihr im Aufwind segelnden Möwen, dann schliesst sie die Augen. Keinen Grund, sich jetzt schon Sorgen zu machen.