Verlag | Weidle Verlag |
Auflage | 2021 |
Seiten | 256 |
Format | 13,0 x 1,6 x 20,5 cm |
Großformatiges Paperback. Klappenbroschur | |
Gewicht | 324 g |
ISBN-10 | 3938803991 |
ISBN-13 | 9783938803998 |
Bestell-Nr | 93880399A |
Obwohl die Städte Amsterdam und Tiflis unterschiedlicher nicht sein könnten, fühlt sich der georgische Erzähler während seines Aufenthalts in Amsterdam nicht als Fremder. Im Zweiten Weltkrieg ist sein Großvater Melenty Maschulia aus einem Kriegsgefangenenlager in Frankreich in die Niederlande geflohen und hat möglicherweise auf der niederländischen Insel Texel gegen die Deutschen gekämpft. Anfang April 1945 begann der berühmt gewordene gewaltsame Aufstand der von den Deutschen zwangsrekrutierten georgischen Soldaten gegen die auf Texel stationierten deutschen Besatzer. Nach Kriegsende wurde der zurückgekehrte Großvater wie viele andere ehemalige Kriegsgefangene von der Sowjetregierung für zehn Jahre ins Straflager nach Sibirien geschickt. Die Großmutter des Erzählers allerdings glaubt, daß sich ihr Mann in eine Holländerin - vielleicht eine Fallschirmspringerin aus Amsterdam, die während einer Arbeitspause im Lager in Frankreich vom Himmel fiel - verliebt hat, sich während des Kri eges auf ihrem Dachboden versteckt hielt und nicht einen einzigen Tag gegen das NS-Regime kämpfte.Auf der Insel Texel lebt eine junge Georgierin, mit der sich der Erzähler per E-Mail über die Geschichte seines Großvaters austauscht und die ihm tagebuchartig aus ihrem Leben berichtet. Während er durch die Straßen Amsterdams streift, geraten sein Großvater und der Besuch auf Texel immer mehr in den Hintergrund. Schließlich aber bricht er nach Texel auf, um endlich die mysteriöse Georgierin persönlich kennenzulernen.
Leseprobe:
Als der Zweite Weltkrieg begann, waren seit der Annexion (durch das sowjetische Rußland) des kleinen demokratischen und unabhängigen Georgien nicht einmal 20 Jahre vergangen. Deshalb dachte ein Teil der Georgier, ob Deutschland als Eroberer nicht (nach dem Prinzip des kleineren Übels) doch besser als Rußland wäre. Ein Teil dieses Teils meinte, Deutschland könnte sich sogar als Befreier und nicht als Eroberer herausstellen. Was dachte damals mein Großvater Melenty Maschulia? Er dachte, es gebe auf Erden keine schönere Frau als Nadjeschda Sartania. Mit ebendieser mingrelischen Schönheit (meiner künftigen Großmutter Nadja) war er seit einigen Jahren vermählt und hatte vor, mit ihr im Vera-Bezirk zu wohnen, in einem Haus, das dort stand, wo sich heute die Philharmonie befindet.Nadjeschda bedeutet auf russisch »Hoffnung«, und mein Großvater hatte bestimmt auch die Hoffnung, daß alles gut ausgehen und er, Melenty, als Sieger heimkehren würde. Doch im Leben bekommen wir nicht nur das, wo von wir träumen und worauf wir hoffen.Manchmal geschieht etwas völlig Unerwartetes. Hätte mein Großvater Melenty sich jemals vorstellen können, daß sich eines Tages der Himmel über Frankreich (fast buchstäblich) auftun und aus ihm eine Frau herunterfliegen könnte, durch die sein Leben endgültig einen anderen Lauf nehmen würde? Nein. Das hätte er nicht. Nichtsdestotrotz ist es genau so geschehen: Am 17. August 1944 tat sich der Himmel auf (wie unser berühmter Dichter Galaktion mit einem Lächeln sagen würde), und auf dem Gelände des nahe der französischen Stadt Périgueux gelegenen Lagers landete eine Fallschirmspringerin. Daß es eine Holländerin und überhaupt eine Frau war, erfuhr Melenty Maschulia erst später, doch zunächst wunderte er sich darüber, daß niemand sonst diesen vom Himmel heruntergefallenen Menschen bemerkte.An jenem Tag, als die deutschen Aufseher eine Pause erlaubten und Hunderte ihrer Gefangenen fast gleichzeitig ihre Selbstgedrehten anzündeten und den Rauch gen Him mel emporsteigen ließen, schaute mein Großvater Melenty Maschulia in denselben Himmel. Etwas entfernt von seinen rauchenden Mithäftlingen lag er auf der Wiese und genoß (bestimmt) den Duft des französischen Grases. Mit den Händen unterm Kopf dachte er (vielleicht) an alles, was er vermißte: seine Frau, seine Kinder, sein Haus und (vielleicht) den Hirsebrei. Er vermißte Georgien und seine lieblichen Gegenden (davon haben wir sehr viele). In der Augusthitze Frankreichs kann er zum Beispiel an die Martwili-Schlucht gedacht haben. Plötzlich ging der Himmel auf, und ein Mensch flog herunter; jemand, der viel mehr war als ein gewöhnlicher Mensch, und Melenty Maschulia nahm an, daß Gott ihn unglaublich reich beschenke, weil nur er allein sah, wie ein Fallschirm über die Baumkronen flog und landete und der Fallschirmspringer sich als eine wunderschöne holländische Frau entpuppte.